Keramik: „Eine irrsinnige Arbeit, aber das Ergebnis ist von außergewöhnlicher Schönheit“ - WELT (2025)

So faszinierend wie aufwendig – wer sich genauer ansieht, wie Keramik eigentlich entsteht, wird staunen. Ein Besuch in der Manufaktur Ceramica di Cava, wo Architekten und Künstler Kacheln für ihre Arbeiten herstellen lassen.

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Filippo Milito hält eine frisch gebrannte Kachel in der Hand. Sie hat den blassroten Farbton des Lehms, aus dem sie gefertigt ist, sie ist quadratisch und hat, obwohl handgemacht, eine ebenmäßige Oberfläche. „Das Interessante für mich“, sagt der 55-jährige Keramikhandwerker und dreht die Kachel auf den Rücken, „ist diese Seite“. Er streicht mit den Fingern über die raue Landschaft der Rückseite. Dann hält er ein glasiertes Exemplar neben das rohe: „Ecco!“

Während die Oberfläche der Fliese bei der Glasur geglättet wird, ergibt sich durch die unebene Struktur darunter ein faszinierender Effekt. Die türkisblaue Farbe ist an den Vertiefungen dunkler, an den Erhebungen heller. Das wirkt, als würde man aus der Vogelperspektive auf das Blau des Tyrrhenisches Meeres schauen, unter dessen glitzernder Oberfläche sich das vulkanische Tiefseegebirge abzeichnet.

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Ceramica di Cava, die Keramikmanufaktur, die Milito zusammen mit seinem Sohn Alfonso betreibt, liegt in Vietri, dem italienischen Zentrum der Keramikherstellung. Auf einem steilen Hang über dem Meer gelegen, ist es von Salerno aus gesehen die erste Perle der Amalfiküste. Ein Streifzug durch Vietri sul Mare reicht, um zu verstehen, warum der Ort als „Keramikzentrum des Südens“ bekannt ist.

Bunt bemalte Kacheln zieren die Fassaden der Häuser und Kirchen, jeder Trinkwasserbrunnen ist ein Minitempel für die Keramikkunst, die Qualität schwankt zwischen kitschig und kunstvoll. Selbst in den vielen Stufen, welche die verschiedenen Ebenen des Ortes miteinander verbinden, leuchten immer wieder schmale, farbige Fliesenstreifen in dem dunklen Vulkanstein auf. Über dem Gewusel thront die Kuppel der Kathedrale San Giovanni Battista, die von einem leuchtenden Netz aus gelben, grünen und blauen Majolika-Kacheln überzogen ist.

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Außer Solimene, einer Manufaktur, die das für die Amalfiküste typische, bunt bemalte Geschirr herstellt und in einem retrofuturistischen Gebäude von Paolo Soleri aus dem Jahr 1954 beheimatet ist, ist die Keramikproduktion von Vietri inzwischen im benachbarten Cava de’ Tirreni beheimatet. So auch Ceramica di Cava. „Durch meinen Vater, der in der ersten Keramikmanufaktur hier im Ort arbeitete, bin ich früh mit dieser Kunst in Berührung gekommen. Mit 16 Jahren arbeitete ich zunächst als Lagerist, dann habe ich mich langsam zu dem hochgearbeitet, was ich heute bin“, erzählt Filippo Milito und erklärt, warum ihm der Beruf auch nach 30 Jahren nie langweilig wird.

„Genau wie der Ort, an dem ich lebe, und der mich mit seiner Schönheit und Keramiktradition endlos inspiriert, ist meine Familie der Treibstoff, der den Motor am Laufen hält. Meinen Sohn Alfonso an meiner Seite zu haben, ist etwas, das ich nie erwartet hätte. Ich bin glücklich, dass er meine Leidenschaft für Keramik mit mir teilt.“ 2018 eröffneten die Militos ihre eigene Manufaktur. An Ceramica di Cava ist besonders, dass sie Maßanfertigungen in Form, Oberfläche und Farbe herstellen können und bis auf sehr wenige Arbeitsschritte komplett von Hand arbeiten. „Mein Vater ist ein Künstler“, sagt Alfonso ehrfürchtig.

Technik, Kreativität und Organisation

Die Militos treffen heute Tecla Tangorra, um einen gefliesten Tisch zu besprechen, den die Architektin mit ihrem Studio Labscape für ein Privathaus in Brüssel entworfen hat. Auf seiner Oberfläche greifen Fliesen in unterschiedlichen Formen, Farben und Oberflächenstrukturen ineinander. Tangorra möchte, dass sich die Fliesen an der Tischkante acht Zentimeter nach unten ausstülpen. „Es gibt ein natürliches Limit“, demonstriert Milito anhand eines Lehmstreifens, den er an der Unterseite der Fliese anbringt.

„Wenn es zu breit ist, bricht es im Ofen“. Tangorra muss sich mit sechs Zentimetern zufriedengeben – immerhin. „Filippo und Alfonso lieben Herausforderungen“, erzählt sie. „Ich habe Ceramica di Cava vor vier Jahren gefunden, als ich für ein Projekt auf Capri auf der Suche nach einem tiefen, lebendigen Blau war, das niemand anderes realisieren konnte“, berichtet die Italienerin. „Inzwischen testen wir zusammen immer wieder Grenzen aus.“

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Für ein Projekt in Paris konzipierte sie jüngst einen vier Meter breiten Kamin mit einer dreidimensionalen skulpturalen Kachelverkleidung aus unterschiedlichen geometrischen Formen, der aussieht, als hätte man die 50er-Jahre in die Zukunft geschossen. Für den Airbrush-Farbverlauf von Braun bis Türkisgrün musste die Fabrik drei Tage lang für jegliche andere Arbeit geschlossen werden. „Eine degradierte Farbe braucht viel Konzentration, und vor allem darf kein Staub eindringen“, erklärt Milito. „Eine irrsinnige Arbeit, aber das Ergebnis ist von außergewöhnlicher skulpturaler Schönheit.“

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„Das war unsere größte Herausforderung bisher“, stimmt der 30-jährige Alfonso seinem Vater zu. „Eine Mischung aus Technik, Kreativität und vor allem Organisation.“ Der ältere Milito erklärt: „Jedes einzelne Teil wurde von den Architekten in einem 3D-Modell erstellt, jedes Teil war nummeriert. Tecla und ihr Team haben ein Modul entwickelt, das um 180 Grad gedreht werden konnte, um verschiedene Schatten zu erzeugen und die Produktion zu optimieren. Für einige Formen haben wir Gussformen hergestellt, für andere haben wir alles von Hand gemacht.“

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Vater und Sohn führen die Besucher zu der Station an der Rückwand der großen, luftigen Halle, an der der erste aller Arbeitsschritte stattfindet. Denn obwohl sie schon viele Projekte miteinander realisiert haben, ist Tangorra, deren Studio Standorte in New York und Brüssel hat, heute zum ersten Mal vor Ort. An einem großen Mischtrog greift Mitarbeiter Marco großzügig in die Lehmmasse und drückt sie in einen Holzrahmen, der den Lehm in vier quadratische Flächen unterteilt. In die Masse sind geriebene Terracottareste eingemischt.

„Wir arbeiten so nachhaltig wie möglich“, erklärt Milito junior. „Produktionsabfälle werden so weiterverarbeitet.“ Marco zieht die überstehende Masse mit einem Holzstab flach und berührt die Quadrate dann vorsichtig mit der Hand, um sicherzustellen, dass keine Luftlöcher darin sind. „Sonst brechen die Kacheln beim Brennen“, sagt er und streut eine dünne Schicht fein geraspelter Holzspäne über die Platten, damit sich später beim Brennen eine raue Oberfläche ergibt.

Die Lehmplatten müssen nun für 24 Stunden ruhen, werden dann mit Wasser geglättet und kommen anschließend zehn Tage lang in einen Trockenraum. Als Nächstes werden die Kanten geschnitten oder von Hand bearbeitet, je nachdem wie akkurat oder natürlich die Fugen später aussehen sollen, beziehungsweise wie kompliziert die Form ist. Dann wird die Kachel 15 Stunden bei 990 Grad gebrannt. Der Ofen wird mit Erdgas betrieben, was im Sommer 2022 dazu führte, dass Ceramica di Cava die Produktion für einige Monate stoppen musste, da sich die Preise wegen des Kriegs in der Ukraine plötzlich verdoppelt hatten. Alfonso Milito möchte eine Photovoltaikanlage bauen, um den Ofen mit Solarstrom zu heizen.

Verwandelte sein Kindheitstrauma in einen Traum

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Der letzte Arbeitsschritt ist die Glasur: Sie besteht aus Glasstaub, Pigment und Wasser. Im Anschluss werden die Fliesen ein weiteres Mal gebrannt. Gegenwärtig arbeiten die Mitarbeiter an einem Großauftrag für Alicja Kwade. Die Berliner Künstlerin hat rund 200.000 handgefertigte rechteckige Kacheln in einem leuchtenden Wasserblau bestellt, deren Oberfläche mit einem feinen Craquelé versehen ist, das sie aussehen lässt, als seien sie schon Jahrhunderte alt. Die Beständigkeit und Zeitlosigkeit der Kachel fasziniert Kwade, seit sie vor einigen Jahren für eine Ausstellung im Museum für zeitgenössische Kunst in Dallas mit José Noé von Ceramica Suro zusammengearbeitet hat, einer Keramikmanufaktur in Mexiko. „An Keramik liebe ich, dass sie ein Naturprodukt ist. Letztlich ist sie aus Erde gemacht“, erklärt Kwade ihre Faszination am Telefon. „Kacheln sind zugleich statisch und lebendig.“ Für ein neues Projekt hatte sie nach Kacheln in einer bestimmten Farbe gesucht, „ein Poolblau, in einer besonderen Intensität“, und sei so auf Ceramica di Cava gestoßen.

Die Inspiration für das besondere Farbspektrum von Ceramica di Cava, liegt direkt vor der Fabriktür. Nach dem Besuch der Manufaktur treffen wir die Familie Milito zum Abendessen in einem Restaurant, das auf einer Klippe direkt über dem Wasser liegt. Mit dem Stand der Sonne ändert sich das Blau der Meeresoberfläche. Beim Aperitif ist es noch türkisblau, fünf Stunden später ist es beinahe schwarz – aber eben nur beinahe.

Frisch aus dem Ofen. Fünf andere Keramikobjekte:

1. „Merlate“, zu Deutsch „Zinnen“, nennt die spanische Designerin Patricia Urquiola ihre Vasen-Kollektion, die sie für die Manufaktur Bitossi Ceramiche entworfen hat. Und tatsächlich, wie kleine Gebäude von Frank Lloyd Wright wirken die bunten Keramikbehälter, die dieses Jahr beim Salone del Mobile in Mailand vorgestellt wurden. Mit einem Strauß Herbstblumen darin bekommen sie einen Dachgarten! Um 900 Euro, über bitossiceramiche.it

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2. Zum Gießen! Diese Kanne ist kein Kindergartenkunstwerk aus Wellpappe und Tesafilm, sondern ein Design des französischen Keramikkünstlers Jacques Monneraud. Komplett von Hand geformt und bei 1270 Grad gebrannt, hat Monneraud nur die Stellen glasiert, die wie Klebefilm aussehen sollen. Auch wenn man es ihr nicht zutraut, die Kanne aus der Kollektion „Carton“ ist wasserdicht. Derzeit ausverkauft, es wird aber bereits nachproduziert. Um 460 Euro über jacquesmonneraud.com

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3. Bei „Céramique“, der hübschen Tischleuchte, die Ronan Bouroullec (erstmals ohne seinen Bruder Erwan) für den Hersteller Flos entworfen hat, muss man sich vor der Anschaffung entscheiden: Soll sie nach oben, unten oder nach vorn leuchten? Flexibilität wie bei anderen modernen Lampen ist hier nicht drin. Das Trio Up“, „Side“ und „Down“ aus glasiertem Keramik ist eine Hommage an das Material der Wahl. „Bei der Keramik geht es um Lust, um Sinnlichkeit“, so der Designer. „Ich denke, dass sich meine Arbeit immer mehr in diese Richtung bewegt“. Gut ist nicht immer praktisch – hier aber umso schöner. Um 870 Euro, über flos.com

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4. Weniger Kachel für mehr Effekt! Die Architekten von Snøhetta haben für den Hersteller Fornace Brioni eine Kachel-Kollektion entworfen, bei deren Produktion möglichst wenig Material verwendet wird. Um keinen Kompromiss bei der Stabilität zu machen, sind die Außenränder von „Void“ ausgestülpt, während die Kachel nach Innen hin vertieft ist. Je nachdem, wie sie zusammengesetzt werden, ergeben sich unterschiedliche geometrische Formen, Licht- und Schattenspiele. Preis auf Anfrage über fornacebrioni.it

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5. „Toru“ (auf Maori das Wort für drei) nennt Hersteller Blomus seine Kollektion von drei kompakten, gedrungenen Möbeln aus glasierter Keramik, die als Beistelltische, Hocker oder Podeste dienen können. Dieses hier sieht aus als hätte man vier runde Meditationskissen aufeinandergestapelt. Alle drei Modelle gibt es in den gedeckten Farben Fungi, Lily White und Elephantskin, outdoortauglich sind sie leider nur begrenzt. Um 160 Euro, über blomus.com

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Unsere Autorin Marie-Sophie Müller schreibt aus Brooklyn/New York, Berlin oder – wie in diesem Fall – Vietri über Bemerkenswertes, Künstlerisches, Köstliches und Kurioses. Hauptsache es hat Stil.

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Author: Dong Thiel

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